Ich bin verliebt!

Jawohl.

Wer nun schon den Untergang des Abendlandes oder zumindest den von „Single meets Mom“ befürchtet: ich kann euch beruhigen. Es ist kein Mann. Zumindest kein großer.

Es ist ein Kind.

Meine Freundin und ihr Mann haben vor einigen Monaten ein Pflegekind in Bereitschaftspflege aufgenommen. Diese Tatsache allein wäre schon bewundernswert genug. Dass die beiden aber noch vier eigene Kinder haben, macht es für mich zu einer fast übermenschlichen Entscheidung.

Bei einem Spaziergang im letzten Jahr hatte sie mir erzählt, dass sie in Erwägung ziehen, noch ein fünftes Kind vorübergehend bei sich aufzunehmen. Sie haben das Für und Wider diskutiert, die Kinder mit einbezogen. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Quasi von jetzt auf gleich waren sie Pflegeeltern eines Einjährigen.

Bis ich ihn kennenlernte, waren schon einige Wochen vergangen. Arbeit, Kinder, Schule, Sport… das Leben kommt eben immer dazwischen, bis man sich mal wieder verabredet. Man kennt das ja.

Bis ich das Pflegekind kennenlernte, waren schon einige Wochen vergangen. Und dann: Boom.

Als ich es dann doch endlich mal wieder schaffte, meine Freundin zu besuchen, war es um mich geschehen. Da war er, schaute mich aus großen, dunklen Augen an und lächelte über beide Ohren. Ich hatte ein schüchternes, traumatisiertes Kind erwartet, das in einer immer noch fremden Umgebung mit fremden Menschen und ohne seine Eltern irgendwie versucht zurecht zu kommen.

Stattdessen strahlte dieses Kind eine Wärme und Herzlichkeit aus, wie ich es selten bei Kindern erlebt habe. Keine Spur von Scheu, sofort streckte er die Händchen aus und ließ sich von mir auf den Arm nehmen. Meine Freundin sagte noch „Pass auf, das ist ein Charmeur.“ Zu spät. Ich war verliebt. Von Sekunde eins.

Was die Sache noch verhängnisvoller machte: Früher hatte ich mir oft überlegt, wie wohl mein Kind aussehen könnte. In den letzten Jahren hatte ich mir das abgewöhnt. Zu schmerzvoll war der Gedanke, dass ich das wohl nie erfahren würde. Und dann setzte mir das Universum ein Kind auf den Schoß, das mir eine mögliche Antwort auf diese Frage gab. Ob ich wollte oder nicht. Der Kleine hatte die gleichen Haare wie ich als Kind und die gleiche Augenfarbe. Ja. So könnte er aussehen.

Frau mit Pflegekind auf dem Scho0
Und plötzlich setzt mir das Schicksal ein Kind mit meinen Haaren und meiner Augenfarbe auf den Schoß.

Der Abschied am Abend fiel mir schwer. In den folgenden Tagen und Wochen konnte ich nur noch an diesen kleinen Knopf denken. Und auch wenn ich nur aus Erzählungen weiß, dass es sich anders anfühlt als alles, was man vorher gekannt hat: Ich glaube, ich habe den Ansatz einer Ahnung davon bekommen, was Mutterliebe ist.

Ich fühlte mich auf einmal an die Art Liebe erinnert, die ich am Anfang meiner Teenagerjahre empfunden hatte. Als man das erste Mal verliebt war, heimlich selbst verständlich, und alles Mögliche angestellt hat, um dem Schwarm „zufällig“ zu begegnen. Eine unschuldige Verliebtheit, ohne Vorbelastungen und Erwartungen, die sich einfach leicht anfühlt, weil man nichts zu verlieren hat.

Und auch jetzt hatte ich – wie damals mit 13 – den Drang, „zufällig“ mit dem Fahrrad am Haus meiner Freundin vorbeizufahren, um zu sehen, ob sie mit den Kindern im Garten ist. Sicher, man kann auch einfach vorbeigehen und klingeln oder sich zum Kaffee verabreden. Aber ich kam mir lächerlich vor. Dass ein Kind derartige Gefühle in mir auslösen konnte, war mir fremd. Und ich glaubte nicht daran, dass das jemand verstehen würde.

Sicher, wenn man ungewollt kinderlos ist, macht man sich Gedanken über Alternativen. Samenspende, Adoption. Man könnte auch jemandem einfach ein Kind unterschieben. Nichts davon schien mir eine Lösung für mich zu sein. Aus moralischen Gründen. Aus rechtlichen. Und weil ich nicht sehenden Auges in die nicht zu unterschätzende Situation rennen wollte, alleinerziehend zu sein.

Und ein weiterer, vielleicht sehr unpopulärer Grund machte mir die Überlegung einer Adoption unmöglich: Kann ich ein fremdes Kind lieben wie mein eigenes? Vor allem, wenn es vielleicht schon einen Rucksack an schlechten Erfahrungen mitbringt, den ich ihm vielleicht trotz aller Zuwendung nie vollständig abnehmen kann?

Klar ist: Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten. Aber dieser kleine Mann hat meine Bedenken in einer Sekunde weggewischt. Einfach dadurch, dass er so ist wie er ist. Ich glaube, das Wissen, dass er aktuell niemanden hat, der sich langfristig um ihn kümmern kann, triggert zusätzlich mein Helfersyndrom. Da sitze ich also, mit nackten Füßen auf der riesigen Wiese hinter dem Haus meiner Freundin, den kleinen Knopf zwischen meinen Knien. Und sehe zu, wie er lachend die kleinen Zeigefinger nach den Katzen, den Kühen und Hühnern ausstreckt. Und trotz seiner Situation einfach glücklich ist.

Ich habe mich ernsthaft mit dem Gedanken befasst, dieses Kind zu mir zu holen. Obwohl ich mich selbst noch Wochen vorher für verrückt erklärt hätte, so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Betrunken von einer Achterbahn an Gefühlen aus Verliebtheit, Schmerz und Fürsorge zwar, aber immer noch klar genug im Kopf, um mich gründlich über die Voraussetzungen zu informieren.

Ich habe mich ernsthaft mit dem Gedanken befasst, ihn zu mir zu holen. Aber geht das überhaupt?

Was ich nicht wusste: Als Single ist das sogar möglich. Faktisch erfülle ich alle Voraussetzungen. Und ich habe von meiner Freundin erfahren, dass händeringend Pflegefamilien gesucht werden. Meine Chancen stünden also gar nicht schlecht.

Auch wenn mein Herz den Gedanken noch nicht ganz loslassen kann: Ich habe mich dagegen entschieden. Weil ich dem Kind nicht das Zuhause bieten kann, das ich gerne würde.

Zum einen hat das ganz nüchterne, pragmatische Gründe. Ich arbeite Vollzeit. Wenn ich ein Kind zu mir nehme, das aus seiner Familie genommen wurde und sich erstmal an mich und seine neue Umgebung gewöhnen muss, kann und möchte ich es nicht den ganzen Tag betreuen lassen. Teilzeit zu arbeiten würde jedoch einen immensen finanziellen Einschnitt bedeuten, da ich ohne Partner kein zweites Einkommen habe, auf das ich mich verlassen kann. Und Mutter sein von 0 auf 100? Ich bin ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich mir das zutraue. Ohne einen Partner, der mich unterstützt.

Aber selbst wenn ich all diese Rahmenbedingungen schaffen würde: Der Kleine hat Eltern. Was zum zweiten und sehr viel emotionaleren Aspekt führt: Es kann passieren, dass mir das Kind nach kürzester Zeit wieder weggenommen wird. Und ich weiß nicht, wie ich – und letzten Endes auch das Kind – das verkraften würde.

Ja, sicher. Das mag sich sehr rational anhören. Aber so einfach ist es leider wirklich nicht. Eine Adoption wäre endgültig. Eine Pflegschaft ist es nicht. Und ich glaube, es ist sehr viel einfacher, wenn das Kind in eine Familie kommt, in der auch andere Kinder leben und die Strukturen einfach schon da und geregelt sind.

Daher versuche ich, den Kleinen oft zu besuchen. Vielleicht nicht zu oft, da die Abschiede immer schwerer fallen. Und den Gedanken weit weg zu schieben, dass eines Tages der Anruf kommen wird, in dem ich erfahre, dass er bald in eine neue Familie kommt.

Bis dahin fülle ich mein Herz mit Tagen voller Kinderlachen. Und der Hoffnung, dass der kleine Knopf trotz aller Widrigkeiten ein Zuhause findet, in dem er geliebt wird.


Ergänzung: Mittlerweile wurde eine Pflegefamilie für den Knopf gefunden. Ich bin mir sicher, dass er es dort sehr gut haben wird. Trotzdem ist mir schwer ums Herz und der Abschied war sehr schwierig für mich. Ich habe ihm eine kleine Plüschkuh geschenkt. Als Erinnerung an unsere Nachmittage auf der großen Wiese. Auch wenn er sich später sicher nicht mehr bewusst daran erinnern wird. Sein Kinderherz aber vielleicht doch. Und an die wunderbare Zeit, die er bei meiner Freundin und ihrer Familie verbringen durfte.

Mach’s gut, mein Kleiner. Und danke. Danke für die Gefühle, die du in mir ausgelöst hast. Und von welchen ich zuweilen schon glaubte, dass ich sie überhaupt nicht empfinden kann.


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