
Vielleicht erinnert ihr euch noch an meine Blogbeiträge zu den beiden letzten Weihnachtsfesten. Im ersten habe ich ausführlich über mein Grinch-Dasein berichtet, wie sehr mich manchmal die ewig gleichen Familienrituale und -geschichten genervt haben, aber auch davon, dass ich meine verlorene Freude an Weihnachten darauf zurückführe, dass es für mich einfach immer eine unfassbar traurige Zeit war. Die mich daran erinnert, dass ich es schon wieder nicht hinbekommen habe, mein Singledasein zu beenden. Und der feste Vorsatz „nächstes Weihnachten bist du nicht mehr allein!“ sich schon wieder nicht erfüllt hat.
Ja, Weihnachten war für mich jedes Jahr auf’s Neue der Gradmesser für meine Beziehungsunfähigkeit. Das ging teilweise sogar so weit, dass ich im Sommer öfter schweißgebadet aufwachte, weil ich geträumt hatte, es sei schon wieder Weihnachten. Um dann erleichtert festzustellen, dass ich ja noch ein paar Monate Zeit hatte, bis das Unheil wieder über mich hereinbrechen würde.
2020 war das anders. Ein Jahr voller Unsicherheit, Ängsten und großen Veränderungen lag hinter mir. Und dann war da ja auch noch Corona. Und ironischerweise fühlte ich mitten in diesem Chaos seit langem einmal wieder große Dankbarkeit. Für das, was ich hatte, was ich trotz allem hatte behalten dürfen und – so seltsam das klingt – auch für das, was ich verloren habe. Weil es längst Zeit dafür gewesen war. Ich habe die Weihnachtszeit in vollen Zügen genossen. Und ich habe gehofft, dass ich meine wiedergefundene Freude an Weihnachten behalten würde. Ich war ja trotzdem noch Single, aber irgendwie hatten sich die Prioritäten verschoben.
Endlich ausgegrincht. Und dann kam doch wieder alles anders.
Wenn ich nun vier Wochen zurückblicke, zum letzten Weihnachtsfest, kam wieder alles anders als gedacht. Gut, ich hatte einige Monate zuvor einen neuen Job angefangen, der mir sehr viel abverlangte. Nach acht Jahren wieder „die Neue“ sein, fachfremd noch dazu, mit männlichen Mittzwanziger-Kollegen, deren liebstes Hobby Kompetenzgerangel ist, das alles hat mein Stresslevel permanent hochgehalten. Da war nicht viel mit Weihnachtsstimmung, bis weit in den Dezember. Und dann passierte Ende November etwas, das mein Weihnachten für immer verändern wird: Meine Großmutter ist gestorben.
Bei einer 95jährigen Dame von „überraschend“ zu sprechen, wirkt auf den ersten Blick sicher ein wenig vermessen. Und man weiß ja selbst, wie man reagiert, wenn die Großeltern anderer Leute sterben: „Ach ja, sie hatte ja ein langes und erfülltes Leben. Ist doch schön, dass sie nicht leiden musste.“ Natürlich. Das ist alles wahr. Aber ich werde mich zukünftig hüten, solche Floskeln zu verwenden. Weil mir nicht klar war, was es für eine Familie bedeuten kann, wenn die Großeltern gehen.
Mit über 90, da ist man doch um jeden Tag froh, an dem sie gesund wach wird. Dass sie noch halbwegs gut zu Fuß ist und die Altersdemenz nur merklich voranschreitet, wenn man sie eine Weile nicht gesehen hat. Und dass man jeden Tag damit rechnen muss, dass sie auf einmal nicht mehr da ist – geschenkt. Weiß doch jeder. Auch ich. Und darum habe ich immer stolz erzählt, dass ich auch mit über 40 noch eine Oma habe, die längst noch nicht ans Sterben denkt. Dass mit ihrem Tod ein so großer Teil meiner eigenen Kindheit plötzlich wegbrechen würde – damit hatte ich nicht gerechnet.
Als Kind habe ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Jeden Samstag, die Vormittage in den Ferien, wenn meine Eltern arbeiten mussten. Frühstücken mit Opa, Vollkornbrot mit Butter und Pflaumenmarmelade, geschnitten in drei Streifen. Von Oma. Der mittlere ohne Rand war immer der beste. Multivitaminsaft, der nur für uns Kinder im Kühlschrank stand. Kopfstand an der Wohnzimmerwand mit Opa, 1000-Mark-Schein-verstecken (der selbstverständlich nicht echt, sondern ein Staubtuch mit Aufdruck war), Rehe füttern, mit Omas Schulbüchern lesen lernen. Die besten Pfannkuchen der Welt essen, mit Zucker, Zimt und Apfelmus.

All diese Erinnerungen, die all die Jahre in meinem Kopf geblieben und mittlerweile sogar teilweise mit in meinen Alltag und Kühlschrank eingezogen sind, sind auf einmal so präsent wie nie. Man möchte sie einfrieren, konservieren. Und obwohl sie ja schon lange nicht mehr aktuell und trotzdem immer da waren, hat man plötzlich Angst, sie gehen verloren. Weil Oma nicht mehr da ist.
Mein Großvater ist schon vor über 18 Jahren gestorben. Auch das war sehr traurig. Aber was mich getröstet hat, war der Ort, an den ich immer wieder zurückkehren konnte, wenn ich Sehnsucht nach ihm hatte: Das Haus meiner Großeltern. Wo noch immer seine Hüte im Schrank lagen und mich auch noch nach all den Jahren schon im Treppenhaus der Holzgeruch aus seiner Werkstatt im Keller empfing. Und wo Oma lebte. Bis zum letzten Tag.
Der Abschied von Oma und dem einzigen Ort auf der Welt, der sich seit meiner Kindheit nicht verändert hat, war hart. Nicht mehr in das Haus zurückkehren zu können, in dem jedes Zimmer seinen ganz eigenen Geruch hat und in dem ich mit geschlossenen Augen von jeder ins Schloss fallenden Tür sagen kann, zu welchem Raum sie gehört. Zu dem ich sogar einen Schlüssel besitze.
Mit am schlimmsten für mich: Der Abschied vom Haus.
Dieses Haus loslassen zu müssen, mit all seinen Erinnerungen, die bis vor ein paar Wochen zusammen mit Oma dort gewohnt haben und die ich besuchen konnte, wann immer ich Lust dazu hatte, bricht mir beinah das Herz. Und ich frage mich, wie die Menschen damit zurechtkommen, dass die Liebsten alle irgendwann gehen müssen. Und wie man darüber nicht verrückt wird.
So saß ich also das erste Mal in meinem Leben am zweiten Weihnachtsfeiertag zuhause. Und fühlte mich unendlich leer. Es war schon komisch gewesen, Oma am Heiligen Abend nicht bei meinen Eltern am Kaffeetisch sitzen zu haben. Aber dieser 26. Dezember, den ich 41 Mal in Omas immer molligwarmem Haus verbracht hatte, mit der Weihnachtspyramide auf dem Tisch – der war einfach ausgelöscht. Und mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr Großeltern eine Familie zusammenhalten. Jetzt müssen wir neue Traditionen schaffen. Und das ist gar nicht so einfach. Bei der Beerdigung haben wir uns gegenseitig versprochen, dass wir uns alle ein Mal im Jahr sehen wollen. Zu Omas Geburtstag vielleicht.

Bis dahin sind die Erinnerungen an meine Großeltern noch ein Stück mehr mit in meine Wohnung gezogen. In Form meiner alten Märchenschallplatten, die ich während Opas Mittagsschlaf im Wohnzimmer hören durfte. Seinen selbstgeschnitzten Vögeln auf meinem Sideboard im Wohnzimmer. Und einem Holzkreuz, das ich als Erinnerung an das Haus mitnehmen durfte und auf dem ein Spruch steht, der für mich all das zusammenfasst, was dieses Haus und das Leben meiner Großeltern ausgemacht hat: „Herr, segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.“
Ich habe den Eindruck, dass es seit jenem Spätnachmittag im November, als Oma starb, viel mehr unfassbar schöne Sonnenuntergänge gegeben hat als vorher. Und auch wenn manch einer das belächeln wird: Ich weiß, dass das die Art meiner wiedervereinten Großeltern ist, uns zu sagen: „Macht euch keine Sorgen, es geht uns gut.“
Noch mehr Einblicke in meine kontroversen Single-Gedanken rund um die Weihnachtszeit findest du im Beitrag 3-2-1… Merry Grinchmas und Ausgegrincht – warum ich mich 2020 das erst Mal seit Jahren auf Weihnachten freue.
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