Heute sind wir bei Marieke zu Besuch. Marieke ist 37 Jahre alt und von Beruf Steuerfachangestellte. Sie und ihr Mann Jürgen haben 4 Kinder. Ronja (9 Monate), Paula (2), Mara (5) und Anna (6). Ihre älteste Tochter ist ein außergewöhnliches Kind. Anna hat das Down- Syndrom[1]. Marieke erzählt uns aus ihrem Leben als Mutter eines Kindes mit Gendefekt, mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen muss und davon, was sie sich von vielen Leuten wünschen würde.

Wann hast du erfahren, dass deine Tochter das Down-Syndrom hat?
Der Verdacht wurde drei Tage nach der Geburt im Krankenhaus geäußert. Eigentlich dachte ich, es wäre unser Entlassungsgespräch. Ich war zu diesem Zeitpunkt allein im Krankenhaus. Mein Mann war nach Hause gefahren, um die Babyschale zu holen. Der Arzt sagte, er wolle nicht lange um den heißen Brei herumreden, aber er habe die Vermutung, dass mein Kind das Down-Syndrom habe. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und vollkommen fertig. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass bereits die Hebammen im Kreißsaal diesen Verdacht hatten. Aber nur ein Arzt darf eine derartige Diagnose stellen. In meinem Fall war im Krankenhaus so viel los, dass erst drei Tage später ein Arzt Zeit für mich hatte. Rückblickend waren diese drei Tage aber eine wunderschöne Zeit, um Anna vollkommen „unbelastet“ kennenzulernen. Wir wurden nach dem Verdacht des Arztes auch nicht gleich entlassen, weil wir den Bluttest abwarten mussten, um die Diagnose zu bestätigen.
Wie hat dein Mann reagiert?
Mein Mann kam, am besagten Tag der Diagnose, um uns abzuholen. Ich saß weinend im Bett und Anna lag schlafend in ihrem Bettchen. Das Bild des regungslos daliegenden Kindes und von mir, tränenüberströmt dasitzend, interpretierte Jürgen falsch. Sein erste Gedanke war: Anna ist gestorben. Ich konnte ihn beruhigen, musste ihm jedoch die Nachricht über den Verdacht, das unser Kind vermutlich das Down-Syndrom hat, überbringen. Jürgen hat super reagiert und sagte nur: „Ach, wenn’s weiter nichts ist.“ Das hat mich trotz aller Traurigkeit und Unsicherheit sehr bestärkt. Anna und Jürgen hatten von Anfang an eine starke Verbindung.
Wurdest du im Krankenhaus medizinisch aufgeklärt? Hattest du danach das Gefühl, umfassend aufgeklärt zu sein?
Nicht wirklich. Es wurden verschiedene Untersuchungen am Herzen und am Zwölffingerdarm durchgeführt, da diese Organe beim Down-Syndrom oft verändert sind. Mir wurde die Internetadresse eines Infocenters mitgegeben, bei dem ich mich informieren sollte. Außerdem die Information, dass wir ein Recht auf genetische Beratung haben. Das bedeutet, dass überprüft werden kann, ob der Gendefekt eine genetische Ursache hat, also vererbt ist, oder ob das sozusagen Zufall war. Das haben wir gemacht.
Wie und wo hast du dich über das Down-Syndrom informiert? Wo hast du Hilfe bekommen?
Ich bin tatsächlich erstmal auf die Seite des DS-Infocenter (www.ds-infocenter.de) gegangen und habe mir eine Erstinformationsmappe bestellt. Darin wird beispielsweise beschrieben, für welche Krankheiten diese Down-Syndrom Kinder besonders empfindlich sind und was man grundsätzlich beachten muss. Zusätzlich habe ich 46plus (www.46plus.de) angeschrieben, das ist ein Verein von Familien in Stuttgart, die Kinder mit Down-Syndrom haben.
Wie ist dein Umfeld damit umgegangen? Wie hat es reagiert?
Ich habe eigentlich durchweg positive Reaktionen bekommen. Oft kam die Frage, ob wir vorher von der Trisomie gewusst haben oder wie wir damit umgegangen wären, wenn wir es gewusst hätten. Für mich war aber immer klar, dass ich das Kind auf jeden Fall bekommen hätte.
Wie reagieren fremde Leute? Was würdest du dir von ihnen in Bezug auf den Umgang mit dem Down-Syndrom wünschen? Auch im generellen Umgang mit Menschen mit Down-Syndrom?
Was mich nervt, sind Bemerkungen wie „das sind doch solche Sonnenscheine und so tolle Menschen. Und immer fröhlich.“ Ja, sind sie, aber sie sind eben auch genauso unterschiedliche Kinder wie alle anderen auch, mit Dickschädel und eigenem Willen. Und es ist eben auch nicht immer alles einfach mit einem Kind mit Down-Syndrom. Die Fehlbildungen und Beeinträchtigungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Was das eine Kind kann, ist für das andere nicht denkbar. Und darum finde ich, sollte man sie nicht alle in eine Schublade stecken.
In unserer Krabbelgruppe kommt immer mal wieder das Thema auf, ob es Bücher gibt, die das Down-Syndrom kindgerecht erklären und ob bzw. wie man andere Kinder auf das Thema vorbereiten soll. Ich denke aber, dass die Kinder mit ihren Fragen ganz von allein kommen, wenn sie etwas nicht verstehen. Man muss ein Kind nicht vorbereiten. Es bewirkt eher das Gegenteil, wenn man vorwegnimmt, dass da jetzt ein Kind kommt, das „anders“ als die anderen ist.
Eine sehr bewegende Reaktion war die eines Vater, dessen Kind ebenfalls eine Trisomie hatte, jedoch auf einem anderen Chromosom. Das Kind war nicht lebensfähig und ist einige Stunden nach der Geburt gestorben. Er sagte zu mir, er wäre froh gewesen, sein Kind hätte Trisomie 21 gehabt, denn dann hätte er es aufwachsen sehen können. Das fand ich sehr berührend.
Generell habe ich bisher noch nie eine negative Reaktion im Zusammenhang mit Anna bekommen.
Worin unterscheidet sich dein Umgang mit Anna von dem mit deinen anderen Kindern?
Ich versuche natürlich, immer alle gleich zu behandeln und jedem Kind gleich viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir praktizieren Inklusion ja quasi zuhause innerhalb der Familie. Anna wird nicht als „etwas Besonderes“ behandelt. Aber man muss bei ihr ab und zu Dinge einfordern, die von den anderen Kindern automatisch kommen. Zum Beispiel sprachlich. Manchmal spricht sie Sätze undeutlich oder nur in Teilen aus, obwohl sie es eigentlich könnte. Und obwohl ich verstehe, was sie von mir will, fordere ich sie auf, den Satz richtig zu sprechen. Das bringt sie sprachlich ja auch voran. Auf der anderen Seite ist Anna extrem empathisch, auch mit ihren Geschwistern. Sie merkt und sieht sehr viel schneller, wenn sich ein Kind weh tut oder weint und tröstet es dann oder sagt mir Bescheid.
Untereinander helfen sich die Mädchen ganz selbstverständlich, aber ich glaube nicht, dass sie das aus der Motivation heraus machen, dass Anna irgendwie anders ist. Wir haben das auch nie konkret thematisiert, das ergibt sich ganz natürlich, wie unter anderen Geschwistern auch.
Manchmal, wenn Annas Schwester eine Freundin zu Besuch hat, beobachte ich, dass Anna ausgeschlossen wird. Und dann überlege ich mir schon, ob das vielleicht daran liegt, dass sie nicht so richtig mitkommt oder ähnliches. Aber die Situation löst sich eigentlich immer dahingehend auf, dass ich feststelle, dass das ganz normale Dynamiken unter Geschwistern sind. Wer sich jemanden zum Spielen einlädt, will die Schwester nicht unbedingt dabeihaben. Das hat nichts mit dem Down-Syndrom zu tun.
Welche Herausforderungen hast du im Alltag?
Dass das Drumherum nicht so geradlinig läuft wie bei den anderen Kindern. Einen Kindergarten oder eine Schule auszusuchen beispielsweise hat immer mit vielen Anträgen und Papierkram zu tun. Und man bekommt im ersten Schritt oftmals gar nicht alle Informationen, die man braucht und auf die man achten muss. Diese Informationen muss man sich dann oftmals erst selbst zusammensuchen. Das hat aber gar nichts mit Anna selbst zu tun, sondern mit dem System. Man muss sich zum Beispiel immer erst informieren, ob die Musikschule ein Kind mit Down-Syndrom in den regulären Kurs aufnimmt oder ob Anna ohne extra Betreuung in einem Chor mitmachen darf. Eben, ob Inklusion so problemlos funktioniert wie bei uns zuhause. Ich habe ja noch drei andere Kinder, das ist manchmal schon anstrengend.
Emotional gesehen habe ich manchmal Erwartungen an Anna, die sie nicht erfüllen kann. Und das ist dann schwierig. Anna ist, für ein Kind mit Down-Syndrom, sehr fit, aber das führt ab und zu zu dem Trugschluss, dass sie alles versteht, was ich von ihr möchte. Wir hatten neulich den Fall, dass sie ihre Schwester gezwickt hat und ich mit ihr geschimpft habe. Aber sie hat mich nur angesehen und gar nicht verstanden, was sie falsch gemacht hat und ich jetzt von ihr wollte. Das sind dann schwierige Momente, in denen ich merke, dass sie grade nicht hinterherkommt und ich es ihr vielleicht nochmal anders erklären muss.
Anna ist dein ältestes Kind. Hast du dich bei deinen folgenden Schwangerschaften im Vorfeld auf das Down-Syndrom oder andere Gendefekte testen lassen?
Nein.
Warum nicht?
Weil es keine Konsequenzen gehabt hätte. Ich hätte jedes Kind bekommen, ganz egal, wie der Befund ausgefallen wäre. Für mich bedeutet so ein Test, dass man in Erwägung zieht, das Kind nicht zu bekommen. Und nicht, dass man sich darauf vorbereiten kann, dass das Kind eventuell nicht gesund ist. Mir war das nicht wichtig und das war auch nie ein Thema für uns.
Was rätst du anderen Müttern, die nach der Geburt ihres Kindes die Diagnose Down-Syndrom bekommen?
Ich denke, man muss es so nehmen wie es kommt und auf sich zukommen lassen. Es gibt da kein Richtig oder Falsch. Wichtig ist der Austausch mit anderen Betroffenen. Sich jemanden zu suchen, mit dem man darüber reden kann.
Ich habe einmal mit einer Frau gesprochen, die die Diagnose bereits in der Schwangerschaft bekommen hatte. Sie hat mich gefragt, ob man Kinder mit Down-Syndrom schon in der Schwangerschaft fördern kann. Ich habe ihr dann gesagt „Ein Grashalm wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Und das weiß sie heute noch. Als wir uns neulich gesehen haben, sagte sie zu ihrem Mann „Das ist die Frau mit dem Grashalm.“ Ich denke, das ist eine wichtige Botschaft. Fördern ist wichtig, aber die Kinder bestimmen das Tempo, in dem sie lernen, selbst.

[1]Menschen mit Down-Syndrom sind Menschen, die in jeder ihrer Zellen ein Chromosom mehr haben als andere Menschen, nämlich 47 statt 46 Chromosomen. Das Chromosom 21 ist dreifach vorhanden, daher wird das Syndrom auch Trisomie 21 genannt. Ursache ist ein Fehler bei der Zellteilung.
Quelle: http://www.ds-infocenter.de
Es gibt noch so viel mehr über das Down-Syndrom zu schreiben. Über Pränataldiagnostik und die Frage, ob eine Früherkennung von Gendefekten und Krankheiten sinnvoll ist. Vielleicht nehmen wir das Thema an anderer Stelle wieder auf und führen es fort.
Wenn ihr Fragen an Marieke habt, könnt ihr sie gerne an uns senden, wir leiten sie dann weiter. Schreibt uns einfach eine Mail an unsere Kontakt Adresse.
Buchtipps zum Thema Down-Syndrom:
Conny Wenk – „Außergewöhnlich: Kinder mit Down-Syndrom und ihre Mütter“ sowie „Außergewöhnlich: Väterglück„
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