Introvertiert

in·t·ro·ver·tiert

/introvertiért/

Adjektiv

Psychologie

auf das eigene Seelenleben gerichtet, nach innen gekehrt; verschlossen.

Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich nicht von einem anderen Planeten komme, sondern zu ebendieser Sorte Mensch gehöre.

Eigentlich ist mir diese Definition viel zu simpel und negativ gefasst. Aber es stimmt: Die meiste Zeit zweifle ich, ob es wirklich von Vorteil ist, nicht extrovertiert zu sein.

Introvertierte wirken oft abweisend, teilnahmslos, leise, uneuphorisch. Wie so eine richtige Spaßbremse eben. Dabei tobt in mir drin meistens ein Sturm. Aus Gedanken und Gefühlen. Ich habe sehr feine Antennen und nehme oftmals sehr viel früher und feingetunter Stimmungen und Charaktere wahr als andere im Raum. In den letzten Jahren hatte ich verlernt, auf mein Bauchgefühl zu hören. Weil Gefühl im Allgemeinen – gerade in der Jobwelt – kein anerkanntes Prinzip ist, das auch noch mit Schwäche assoziiert wird. Und leider haben mir auch viele Menschen in meinem privaten Umfeld immer wieder suggeriert, dass Gefühle = Schwäche zu zeigen, gnadenlos ausgenutzt wird. Heute weiß ich, dass diese Menschen meistens nur von ihren eigenen Schwächen ablenken wollen. Und sich lieber einen Arm abhacken, bevor sie Gefühle zeigen. Eigentlich bemitleidenswert. Denn ein gutes Bauchgefühl ist eine Gabe, die nicht viele besitzen.

Leider ist sie aber Fluch und Segen. Wer feine Antennen hat, nimmt zwangsweise sehr viele externe Befindlichkeiten auf. Vom miesgelaunten Kollegen, von der egozentrischen Freundin, vom narzisstischen Partner. Und versucht dann, das alles zu kompensieren und womöglich den anderen auch noch zu heilen. Und wo bleibt man dann selbst? Genau. Auf der Strecke.

Eigentlich gerne. Aber manchmal ist mir dort einfach zu viel los. Ganz plötzlich.

Eine solche Reizüberflutung kann ich aber auch in ganz simplen Situationen erleben. In einem Bierzelt, auf der Bierbank stehend, mit einem Maßkrug in der Hand und „Verdammt ich lieb‘ dich“ gröhlend. Von einer Sekunde auf die andere werde ich leise. Es ist zu heiß, um mich herum sind zu viele Menschen, die Musik ist zu laut. Ok, vielleicht liegt es auch daran, dass sich in der Maß nur Apfelsaft befindet, denn als vorausschauender Intro, der niemandem auf den Sack gehen will, bin ich natürlich selbst gefahren, um mich in genau so einem Moment möglichst ohne Kollateralschäden aus dem Staub machen zu können. Und da steh ich dann. Der einsamste Mensch der Welt inmitten hunderter feiernder Leute. Und möchte nur nach Hause. Und zwar sofort.

Dabei bin ich überhaupt kein ungeselliger Mensch. Und viele, die mich aus einem für mich sicheren Umfeld kennen – beispielsweise von der Arbeit – wundern sich jetzt vermutlich. Dort bin ich der alte Hase, der fast jede Frage beantworten kann. Der Vermittler, der Seelentröster, die „Teammutti“. Und ich habe kein Problem damit, richtig laut zu werden, wenn es jemand wagt, einem meiner Schäfchen ans Bein zu pinkeln. Aber eben nur, wenn es um andere geht. Für mich selbst Grenzen zu ziehen, fällt mir eher schwer.

In letzter Zeit arbeite ich daran, meine Persönlichkeitsstruktur als Geschenk wahrzunehmen. In einer Welt, in der Zwischenmenschliches meistens sehr oberflächlich abgehandelt wird und jeder nur an sich denkt, bin ich offenbar eine seltene Ausnahme. Schwierig wird es dann, wenn ich das Gefühl habe, dass alle das mitnehmen, aber selbst nicht auf dieser Ebene kommunizieren. Daher versuche ich, meine Antennen für mich zu nutzen. Menschen auf den ersten Blick einschätzen zu können und entsprechend mit ihnen umzugehen, zum Beispiel.

Ein Satz, den ich vor allem von Männern schon sehr oft gehört habe, ist „Krass, ich hab noch nie jemandem so schnell so viele persönliche Dinge erzählt. Wie machst du das?“ Ganz einfach. Ich höre zu. Und stelle die richtigen Fragen. So simpel. Und offenbar so wirkungsvoll. Der Nachteil ist: Meistens wurde ihnen das dann irgendwann unheimlich und zu kompliziert. Dann lieber oberflächlich bleiben.

Daher hadere ich oft mit dem Gedanken, ob ich mich der Gesellschaft anpassen und auch oberflächlicher sein sollte – was absolut gegen meine Überzeugung geht, aber bevor ich daran krepiere…. Oder ob ich den Gegenwind aushalten muss, um vielleicht zumindest in meinem Umfeld zu zeigen, wie es auch anders gehen kann.

Gerade in persönlichen Krisen merkt man vor allem den engsten Freunden an, wie es um ihre Empathiefähigkeit bestellt ist. Für Ablenkung sorgen können die meisten. Abendessen, Cocktails, Mädelswochenende, ein gut gemeintes „ach, das wird schon wieder“. Kein Problem. Und das will ich auch überhaupt nicht abwerten. Aber manchmal möchte ich einfach traurig sein. Unsachlich. Wütend. Und dann brauche ich jemanden, der sich zu mir auf den Boden setzt und sagt „Schöne Scheiße. Was bildet der sich denn ein, der Depp? Und was will er bitte mit dieser Tussi?“

Den erhobenen Zeigefinger mit moralisch einwandfreier Belehrung, dass es mir ja jetzt wohl null bringt, seine neue Freundin zu beleidigen, bitte mal stecken lassen. Vom Boden hochziehen, Ablenkungsmanöver und einen neuen Lebensplan, weil ich schon wieder über einen Kerl wegkommen muss, machen wir dann morgen. Oder in nem Monat. Denn jetzt will ich grade einfach weinen.

Für heute ist die Show vorbei. Genug reizgeflutet.

Seid Ihr auch „Overthinker“ und viel zu sehr mit dem Außen beschäftigt? Oder bleibt Ihr auch lieber an der Oberfläche? Oder schafft Ihr es vielleicht sogar, beides gut zu vereinbaren?

Schreibt uns Eure Erfahrungen unten in die Kommentare oder bei Facebook oder Instagram. Wir freuen uns auf Eure Geschichten.

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5 Antworten zu „Spaßbremse on board – was wir von Introvertierten lernen können.”.

  1. Fast alle merken irgendwann, das die „Spaßbremsen“ doch gar nicht so blöd sind
    und die anderen, wer sind die anderen???
    Schön geschrieben und bleib wie du bist…

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    1. Danke, sehr lieb von dir. Die anderen sind meistens lauter. Und als eher leiser Mensch bekommt man schnell das Gefühl, dass das richtiger ist, wenn man überleben möchte. Ist aber nicht unbedingt so. Ich arbeite dran :).

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      1. Wundervoll geschrieben! Seinen eigenen Weg zu finden und seinen Schwingungen im Inneren nachzufühlen, kann oft so schwer sein, besonders wenn andere lautstark ihre Positionen brüllen.
        Trotzdem: seinem Gefühl nachgehen und wie du auch sagst für sich und andere eintreten! Aber das „für sich“ steht mit ganz vorne! Und auf dem eigenen Weg verändert sich oft viel, auch durch die schwere Erfahrungen, die man macht, die einen aber meilenweit für die eigene Entwicklung voran bringen können.
        Und vieles bleibt gleich und das ist auch gut so.

        Ich lese gerne euren Blog, auch wenn ich nicht ganz eurer „Zielgruppe“ angehöre (verheiratet, kinderlos) 😉

        Liebste Grüße,
        Britta

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      2. Liebe Britta,
        ganz lieben Dank für Deinen netten Kommentar. Wir freuen uns, wenn wir auch abseits der „Zielgruppe“ aus dem Herzen sprechen können. Wir hoffen, Du bleibst uns treu und wünschen Dir weiterhin ganz viel Spaß!

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  2. […] Falls dir dieser Beitrag gefallen hat, könnte dich auch dieser interessieren: Spaßbremse on board – was wir von Introvertierten lernen können. […]

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